01 Feb
Sekundenbild von Claus Maywald
Sekundenbild
Claus Maywald, 1983-1985 und 2012 Tinte auf Papier, digitalisiert 810 mal 160 cm
Umgesetzt mit freundlicher Unterstützung von Rainer Schnell, Wiesbaden
Das „Sekundenbild“ entstand in den Jahren 1983 bis 1985 und wurde im Jahre 2012 an wenigen Stellen nochmals überarbeitet.
Es besteht aus 86.400 Zeilen. Jede Zeile markiert und steht für die Sekunde eines Tages. Am Anfang und am Ende des Bildes ist das Datum, an dem es begonnen (11.2. 1983) und an dem es beendet (11.1. 1985) wurde, vermerkt. Die leeren Zeilen im Bild verweisen auf eine Ebene hinter der Zeit, auf das „Zeitlose“. An der Uhrzeit, welches den Geburtstag des Künstlers symbolisiert, ist das Wort „Uhr“ in der Zeile verkehrt herum geschrieben.
Das Bild ist ausgestellt im Museum für Sepulkralkultur Kassel
Eine Kopie befindet sich im Kinderhospiz Bärenherz Wiesbaden
1983-1985
Die Idee zu diesem Bild kam nach der Lektüre eines Buches, welches ein Überlebender des Konzentrationslagers in Dachau geschrieben hatte. Er erzählt darin vom Leben im Lager und von den Menschen, wie sie sich im Angesicht des täglich drohenden Todes verhalten. In der Beschreibung einer Szene, die auf dem Appellplatz stattfindet, und bei der ein Häftling nach vorne zu seiner Exekution gerufen wurde, steht der Satz: „In tödlicher Einsamkeit tritt jeder zur letzten Bewährung an.“ Der Autor meinte damit die letzten Sekunden, die seiner Erfahrung und Meinung nach über den zum Tode Verurteilten eine tiefere Wahrheit über seinen Wesenszug zeigen würde. Hier zeige sich der Verurteilte ganz alleine mit dem, was er wirklich sei, und nicht mit dem, was er vorgebe, zu sein.
Um genau die Darstellung dieser letzten Sekunde ging es damals in meinem Bild. Ich wollte jede Sekunde notieren, da jede eines Tages die Sekunde sein könnte, an der man in Erfahrung bringt, wer man wirklich ist. Denn erst im Angesicht des Todes, in der „letzten Sekunde“ greift die Erkenntnis, die vorher nicht erkannt werden kann, hier muss ich mich dem Resultat meines Lebens und der Erkenntnis dessen, wer ich wirklich bin, stellen.
2012
Über fünfundzwanzig Jahre später hat sich die Frage nach dem „Wer bin ich“ in seiner Konzentration auf die letzten Sekunden des Lebens abgeschwächt. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Bewertung eines Lebens etwas weniger von den letzten Sekunden abhängt, als ich zuvor gedacht hatte. Dass diese Zeit dennoch die Chance bietet, sich selbst besser in Erfahrung zu bringen, seinem eigenen Wesenzug ganz nahe zu kommen und die Frage des „wer bin ich“ angesichts des Todes mit bedeutendem Inhalt gefüllt werden kann, davon bin ich weiterhin überzeugt.
Es stellen sich aber noch andere Überlegungen. Stehe ich zu meinem Leben auch in Krankheit und Schmerz bis zur letzten Sekunde, akzeptiere ich die mögliche Reduzierung auf immer weniger? Zählen die letzten Sekunden nicht mehr, die mir so schwer fallen könnten? Kürze ich die Chance, Lebenserfahrung zu machen, ab, oder halte ich es aus, zu erfahren, wohin die Reise bis zum Schluss, bis zur letzten Sekunde, geht? Was ist mir das Leben bis zuletzt Wert? Will ich bis zum Ende wissen, wer ich bin, wenn mir die letzen Sekunden noch solche Chancen bieten können, will ich das Leben mit allen Erfahrungen akzeptieren?
Jetzt zeigt das Bild die Chancen und Erfahrungen, die mir bis zur letzten Sekunde möglich bleiben. Jede Sekunde zählt und ist kostbar.
2015
Das Bild stellt Zeit dar und ist gleichzeitig eine Meditation über die Zeit. Sein Herstellungs-prozess hat viel Zeit gekostet und sie im Tun erfahrbar gemacht. Es lädt ein, in zwei Richtungen zu schauen, auf den Anfangs- und den Endpunkt. Damit nimmt es die Endlichkeit, aber auch die Dauer der Zeit, die mir zur Verfügung steht, in den Fokus. Es wird zu einem Memento mori. Ich darf mich fragen: wie viel Uhr ist es in meinem Leben?
Das Bild erscheint wie eine „kaum überschaubare“ Reihe, und die Zeilen suggerieren eine Fülle an Zeit, die uns an nur einem Tag zur Verfügung steht. Schnell kann dieser Tag zum Symbol des ganzen Lebens werden, werden die Minuten und Stunden zu den Etappen des eigenen Lebens. Mit der durchschnittlichen Lebenserwartung ausgestattet, lässt sich ablesen, auf wie viel Uhr die eigene Lebensuhr steht. Und wenn uns der Anfangspunkt kaum erschreckt, sondern als Urknall unseres Lebens den mehr oder minder fröhlichen Beginn markiert, so sehen wir doch mit anderen Gefühlen auch das Ende, die unerbittlich letzte Stunde, Minute und Sekunde.
So wirkt es in zwei Richtungen: zum einen macht es uns die Fülle deutlich, zum anderen weist es auf die Endlichkeit hin. Stehe ich davor und schaue auf die vielen Linien, so habe ich das Gefühl, aus dem Vollen schöpfen zu können. Versuche ich aber zu verstehen, an welchem Punkt meines Lebens ich gerade stehe, dann ist es doch manchmal ziemlich spät – und wer weiß, vielleicht bin ich schon in der letzten Stunde, und weiß es nur noch nicht.