01 Juni
Frankfurter Rundschau 6/2015 Eine Geschichte über vier junge Frauen.
Es gab einen Moment in Elsa Pitellos Leben, da merkte sie, dass niemand auf sie aufpasst, wenn sie es nicht selbst tut. Elsa war 17 und magersüchtig. Hilfe konnte sie nicht erwarten. Als sie realisierte, was passierte, ging sie selbst zum Arzt. Ihrem Vater, sagt sie, sei sie deshalb nicht böse, er sei nicht erreichbar gewesen. Denn er war dabei, Lara zu retten. Elsas kleine Halbschwester, die kleine, süße, starke Lara mit dem bösartigen Gehirntumor. Lara war zwei Jahre alt, als sie krank wurde. 2007 war das, das Jahr, in dem auch Elsa krank wurde. „Papa hatte Angst, zwei Töchter gleichzeitig zu verlieren. Und er war unsicher im Umgang. Er hatte alles zum Thema Krebs gelesen, er hatte keine Kapazität, sich noch bei Essstörungen einzulesen.“ Manchmal schickte die Familie Elsa in ihrer Hilflosigkeit direkt nach dem sonntäglichen Familienessen auf die Waage. Der Vater sei hin und wieder etwas unsensibel, sagt Sonia, die zweitjüngste der vier Pitellos-Schwestern. „Wenn ich sagte, mir ist kalt, gab es als Antwort: Ist ja klar, du isst ja nichts.“ Elsa, Anna, Sonia und Lara wuchsen in einer Patchwork-Familie auf. Anna (19) und Sonia (16) lebten bei der Mutter in Frankfurt, Elsa (23) und die gemeinsame Halbschwester Lara 100 Kilometer entfernt in Rheinhessen, beim Vater, dessen neuer Frau und deren Sohn aus einer früheren Beziehung. Irgendwann hatte Lara Gleichgewichtsstörungen, sie schielte und fiel im Stehen um. Der Beginn eines neuen Lebens für eine ganze Familie. Am Ende war die jüngste Tochter tot und die Familie dabei zu zerbrechen. Verwirrend sei das damals gewesen, als die Diagnose kam, sagt Elsa: „Papa und seine Freundin haben es mir im Dunkeln gesagt, bei einem DVD-Abend. Wir haben uns umarmt und geweint.“ Sonia sagt, dass man auch als Kind verstehe, wenn etwas Schlimmes passiert ist, wenn der Vater plötzlich zu weinen beginnt. „Es ist hart, wenn dein Vater vor deinen Augen zerbricht“, ergänzt Elsa. Anna denkt an ihre Oma, die auch Krebs hatte, „aber das ist halt eine Oma“, sagt Elsa.
Es gab auch Hoffnung
Die Familie ordnete sich neu. Im Zentrum: Lara. Und trotz des Elends war da auch die Hoffnung. „Ich hatte nie das Gefühl, dass Lara sterben könnte. Sie war so stark“, sagt Anna. Es gab drei Leben in ihrer Realität: Das Lara-Leben, das Mama-Leben und das Schulleben. Auch in Letzterem war nichts konstant. Anna zerstritt sich mit ihren Schulkameraden, sie wechselte die Schule, als das mit Lara begann. Das Mama-Leben war so was wie Normalität, ein Ort, an dem es Halt und Schutz gab, ein Ort, an dem Sonia und Anna jemanden zum Reden hatten. „Lara und ich haben wie vorher miteinander gespielt, es gab nur ein paar Regeln“, sagt Sonia. Voller Liebe sprechen die drei Schwestern über Lara, immer wieder kommen Erinnerungen hoch. „Ach, manchmal ging sie einem auch auf die Nerven“, sagt Elsa lachend. „Stimmt, sie war ziemlich zickig“, ergänzt Sonia, ebenfalls kichernd. Schnell seien Mundschutz und Desinfektionsmittel Alltag gewesen, auch die Krankenhaus-Besuche. Sie zelebrierten das Tablettennehmen und das Fiebermessen. Der Vater malte ein Tumorbuch, sie trugen T-Shirts, auf denen ein Tumor durchgestrichen war und Lara hatte ein rosa Schwert, um den Tumor zu bekämpfen. Sie sprachen völlig normal über Ports und Schläuche, über Operationen und Chemos. „Lara hatte einmal eine große Operation in Mainz, wir haben draußen gewartet. Dann kam sie an, im Rollstuhl, auf dem kahl rasierten Kopf eine Beule, angeschlossen an Geräte. Und sie lächelte“, erinnert sich Sonia. Trotz allem sagt Anna, nur die Wochenenden seien Lara-Leben gewesen. Da haben sie die schönen Dinge gemacht, nur selten mussten Sonia und Anna am Wochenende mal auf den kleinen Stiefbruder aufpassen. Auch wenn die Zeit prägend für alle drei Schwestern war, Anna und Sonia hatten einen Ausgleich mit ihrer Mutter. Für Elsa hat sich am meisten geändert – auch wenn sich die Familie viel Mühe gab. „Keine Ahnung, wie die das gemacht haben“, sagt Elsa bewundernd, „das war eine mega Organisation mit null Flexibilität.“ Ihr Vater und die Stiefmutter schafften etwa Zeitfenster, in denen Elsa das Auto haben konnte, das sei erstaunlich gewesen, unter diesen Umständen, sagt Elsa, „aber bevor man noch mehr belastet, hat man es lieber sein lassen“. Das Zeitfenster war ohnehin minimal, Lara ging vor, „es war trotz allem Bemühen mega unpraktisch“. Auch sonst war es schwierig für Elsa. Ihr Vater und dessen Freundin, bei denen sie lebte, waren quasi permanent für Lara da. „Unser kleiner Stiefbruder musste da sicher auch einiges einstecken“, sagt Elsa. Es war keiner da zum Reden, keiner, der sich um sie und ihre Magersucht kümmerte. Die Eltern machten das Angebot zum Reden, aber Elsa nahm es nicht an. Vielleicht aus Rücksicht, vielleicht, weil sie ohnehin eher zurückgezogen war. Sie sei sowieso auf sich allein gestellt gewesen, sagt Elsa, „durch Lara hat sich das nur verstärkt“. Freunde hatte sie, aber mit denen wollte sie nicht über Lara reden, weil sie sie nicht überfordern wollte. „Ich wollte kein Mitleid. Und ich wusste nicht, wohin mit diesem Thema.“ Laras Tumor wurde zerstört, ihre Haare wuchsen wieder, gesunde, dicke Haare. Die Familie fuhr zusammen in Kur in den Schwarzwald, sie hatten eine unbeschwerte Zeit. Auch Anna und Sonia bekamen dort Hilfe, es gab spezielle Programme für die gesunden Geschwisterkinder. „Da hatten wir zum ersten Mal Kontakt mit Leuten, die Ähnliches durchgemacht hatten“, sagt Anna. Laras Tumor kam wieder. Zweimal. Und es wurde schlimmer. Anna erinnert sich an Schreie, an Schläuche in Laras kleinem Körper, „es sah so unnatürlich aus“. Lara, dieses kleine, energiegeladene, nette, intelligente Wesen. Es war gemein. Die großen Schwestern waren traurig und wütend, doch gezeigt haben sie es nie. „Für Lara. Ich glaube, man wird schneller gesund, wenn man glücklich ist“, sagt Elsa, „und damit es erträglich ist.“
Das Thema Tod war immer präsent
Im Krankenhaus haben sie Luftballons desinfiziert und den Gummiball – jedes Mal, wenn er beim Spielen den Boden berührte. Sonia und ihr Stiefbruder winkten Lara vom Fenster aus zu, weil sie zu jung waren, um sie zu besuchen. „Für den Alltag musste ich nicht schneller erwachsen werden“, sagt Sonia, „aber ich wurde es, weil das Thema Tod plötzlich so präsent war.“ Irgendwann hatte Anna keine Lust mehr auf Krankenhaus. „Es ging Lara so schlecht und durch mein Kommen konnte ich sie nicht mehr Aufmuntern.“ Es war immer nur extra-anstrengend. Den Mädchen dämmerte nach dem Rückfall, wie ernst es war. Im Auto sagte der Vater zu Anna einmal: „Sie kann sterben.“ Mehr zu sich selbst antwortete Anna: „Nein, nein, nein, sie stirbt nicht.“ Als der Anruf kam, dass es zu Ende geht, versteckte Sonia sich in ihrem Zimmer hinter den Gardinen. „Ich wollte weg, einfach weg.“ Alle zusammen zogen sie 2011 ins Hospiz. Die alte und die neue Familie. Die Mädchen machten Ausflüge, spielten Snooker, kletterten. Es gab Streit, weil Laras Eltern die Mutter von Elsa, Anna und Sonia nicht dabei haben wollten. Die aber war die Stütze für ihre Töchter. Lara bekam Morphium und irgendwann wünschten sich selbst die Schwestern, dass die nun sechsjährige Lara endlich sterben dürfte. Es gab keine Hoffnung mehr und sie hatten keine Energie mehr. Sonia sagt: „Bis sie stirbt und du fällst.“ „Unsere Familie zerbrach an Laras Tod“, sagt Elsa, „wir alle haben versagt in dieser Zeit.“
Lara habe die Familie zusammengehalten, mit ihrem Tod war eine Lücke entstanden – und die Familie musste sich erneut neu organisieren. Dieses Mal ohne Lara. Zwei Tage nach der Beerdigung zog Anna für einen Austausch nach Frankreich, Elsa kurz darauf zum Studium nach Köln. Beide sagen, es war ein Gefühl der Befreiung – neue Orte, neue Menschen, niemand, der ihr Schicksal kannte. „Das war richtig, richtig blöd. Lara war tot und die beiden weg“, sagt Sonia. Wenn ihre Mutter den Raum verließ, fragte sie sofort, wohin sie gehe, wann sie wiederkomme. Sonia hatte Verlustängste entwickelt. In der Schule zählte sie all jene Pausen, in denen sie sich nicht weinend auf die Schultoilette zurückzog. Dazu kam Streit mit dem Vater: Sonia wollte ihre Ruhe, eine Pause, Abstand. Der Vater hatte auch Verlustängste und das Gefühl, vier Töchter auf einmal verloren zu haben. „Wir wollten erst einmal weg und er wollte uns so nah wie möglich haben“, sagt Sonia, „wir wurden mit Gefühlen überladen – und da war ja auch noch das Lara-Gefühl.“ Das Hospiz ließ die Familie nicht alleine. Die Schwestern bekamen eine Betreuerin. „Sie ist wie eine Freundin, man kann sie alles fragen“, sagt Sonia. Anna sagt, es sei schön gewesen, nicht mitzuerleben, wie sich alles langsam normalisiert. Als sie aus Frankreich zurückkehrte, war alles wieder einigermaßen geordnet. Elsa geht es heute, fast vier Jahre nach Laras Tod, besser. Vergangenes Jahr kam sie aus Köln zurück, sie wohnt nun auch bei ihrer Mutter. Damals, sagt sie, sei die Magersucht ein Hilfeschrei gewesen. Wie ein Schlag ins Gesicht sei der Moment gewesen, in dem sie realisierte, dass sie da alleine durch müsse. Sie ließ sich helfen, immer begleitet vom schlechten Gewissen, den Eltern bewusst oder unbewusst noch mehr aufzubürden. Heute weiß sie: „Egal, welche Krankheit es gewesen wäre, jeder weitere, der auffällig wurde, hätte meine Familie überfordert.“ Heute sprechen die Pitellos-Schwestern öfter über ihre Halbschwester, aber weniger über die schlimme Zeit. Es ist eher ein: „Weißt du noch, als …“ als tiefe Gespräche. Es sei mehr Sehnsucht und Nostalgie, sagt Elsa. Sonia hat eine Lara-Kette und sammelt rosa Kinder-Haarspangen wie die Stiefmutter kurz nach Laras Tod eine fand. Elsa hat damals, als sie nach Köln zog, einen Schlüsselanhänger mit dem Buchstaben L auf der Straße gefunden. Sie dankt Lara regelmäßig, wenn diese Sonnenstrahlen nach unten auf die Erde schickt. Anna sagt es so: „Wir freuen uns über die kleinen Lara-Nachrichten.“