Ausstellung „…gib mir den Ort“ im Museum für Sepulkralkultur in Kassel, Rede von Claus Maywald

Die Rede von Claus Maywald anlässlich der Ausstellungseröffnung am 14.2. 2020.

Sehr geehrter Dr. Pörschmann und sehr geehrter Herr Gerold Eppler vom Museum für Sepulkralkultur, Sehr geehrte Frau Paul und Herr Kamjunke, Sehr geehrter Rainer Schnell, Lieber Kollege Alex Häsing,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die heutige Ausstellung mit dem Titel „…gib mir den Ort, sechs Facetten der Trauer um ein Kind“ ist für mich eine Herzensangelegenheit. Dass mein Anliegen im Museum für Sepulkralkultur verwirklicht werden kann, freut mich außerordentlich. In dieses Haus passt meines Erachtens das Thema  hervorragend, denn für mich ist und bleibt das Museum für Sepulkralkultur der museale Platz in Deutschland  dafür –  ein Haus, das sich der Geschichte des Todes, der Bestattungs- und Trauerkultur verschrieben hat.

Natürlich ist die Ausstellung nicht ohne die Hilfe von Menschen realisiert worden, die mit all ihrem Können geholfen haben, sie so umzusetzen, wie sie sich jetzt präsentiert. Der Dank geht daher an Felix Pestemer für die Bilder zum Monolog, an Chris Paul für die Einheit zu den Trauerfacetten, an Martina Burkart als Sprecherin der Videoclips, an Thomas Merken für den Filmschnitt, an Alexandra Wiebelt-Maywald für das Mitdenken, an Lara Maywald für die Inspiration, an den Kurator Gerold Eppler und den Direktor des Museums für Sepulkralkultur Dr. Dirk Pörschmann für die tatkräftige Umsetzung und Verwirklichung des Projekts. Zudem verdanke ich die Finanzierung des Katalogs und die Unterstützung der Ausstellung  dem Rhein-Taunus Krematorium in Dachsen-hausen, namentlich Herrn Karl Heinz Könsgen, dem Bestattungsinstitut Sulfrian in Alzey sowie Rainer Schnell aus Wiesbaden.

Einen herzlichen Dank an alle!

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

der Titel der Ausstellung „…gib mir den Ort“ ist eine Forderung, zugleich aber auch ein Aufschrei. Denn die Frage: „wo bist Du?“ stellte sich mir angesichts des Unfassbaren, angesichts des Todes meiner Tochter. Insofern ist die Initialzündung und ein Teil der  Ausstellung ein ganz persönlicher Ausdruck meiner Trauer. Die Frage nach dem „wo bist Du?“ begleitet meinen Trauerweg bis heute. Der Weg stellt den permanenten Versuch dar,  die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Das Leben mit der Tochter  will weitergelebt werden. Und wenn nicht in der hiesigen Realität, dann eben anders. Für mich – und für so viele andere – gilt, die gemeinsame Geschichte weiter zu erzählen, den Bruch in die eigene Biographie zu integrieren und – wie es so schön bei William Worden formuliert ist – den Aufbruch in das neue Leben mit der Verstorbenen zu wagen. So wurde die Hoffnung geboren, nicht vor der Abbruchkante des Lebens stehen zu bleiben und den Stillstand auszuhalten, sondern die eigene Geschichte weiter zu leben, mit Lara. Das war keine Option, die frei zur Auswahl stand. Es war die Option für das Weiterleben und gegen eine nicht enden wollende Überforderung. Jeder andere Weg war unerträglich und daher keine Option.

Auf diesem Weg konnte ich Sinn in mein Leben bringen, die Geschichte des Lebens weiter erzählen. Ohne die physische Präsenz von Lara, aber doch mit ihr. Das ist mein Weg, und er führt über lange Strecken, über immer wieder neue Werke, Arbeiten und Ausdrucksformen, die sich zu einer langen Kette reihen als Trauerzyklus, Sekundenbild, Ostraka, Ofrenda, Tischinstallation, Hangmümmler-Erfindung und hier, dem „Monolog“.

Dieser Monolog, welcher die inhaltliche Grundlage der einen Seite der heutigen Ausstellung bildet, hat sich – bildhaft gesprochen – in einem inneren leeren Gefäß über zwei Jahre hinweg gesammelt.  Tropfen für Tropfen wurde das Gefäß mit Gedanken gefüllt, bis es voll war. Und dann hat es sich mit einem großen Schwung quasi an einem Nachmittag geleert. Das Bild der Tropfen passt gut, denn der Text wurde in einem Freibad auf irgendwelche Papiere geschrieben. Stundenlang war ich nicht ansprechbar. Es musste raus, es musste ausgesprochen werden, jede Zeile war bereit und hat nur darauf gewartet, auf das Papier zu fließen.

Es ging um die Orte, an denen meine Tochter gelebt hatte, an denen wir gemeinsam über die sechs Jahre ihres langen oder kurzen Lebens hinweg zusammen waren.  Mit ihr allein oder mit der ganzen Familie. Die Orte, die mich permanent umgeben,  waren schwer zu ertragen. Sie waren mit Präsenz gefüllt. Sie erinnerten an sie. Es gab keinen Stein, der mir nicht etwas erzählen wollte, keinen Baum, der nicht von ihr gesprochen hat. Und ich habe zugehört. Und es hat weh getan. Es schmerzte und es schmerzt immer noch. Es ist nicht vorbei und es darf auch nicht aufhören, denn es ist der Weg, das Geschehene zu ertragen, ohne es zu vergessen. Die Trauer gehört zu mir, ist, wie im Monolog beschrieben, „meine Nabelschnur in die Unendlichkeit.“ Und dort, am anderen Ende der „Nabelschnur, steht sie wohl. Ich denke, sie schaut uns zu, in der ihr eigenen Art, mit ihrer so eigenen „Power“.  „Bin ich cool“ hat sie in einem Film einmal gesagt. „Ja, du bist richtig cool.“Und – danke für den Text.

Über die Auseinandersetzung mit den konkreten Orten hinaus wird der Text auch die  Beschreibung eines abenteuerlichen Wegs zu mir selber. Ich bin zuerst und immer wieder auf der Suche: „Suchen, was eigentlich nicht verloren, weil es nicht verloren gehen durfte“ [1]; und:  „gib mir den Ort, und ich suche ihn jeden Tag, bis ich ihn finde.[2]“ steht im Monolog. Ich bewege mich, weil Stillstand nicht geht und mir das Leben damit entgleiten würde. Beide Momente finden sich im Vorwort des Monologs. Er ist „eine Auseinandersetzung mit dem frühen Verlust der jüngsten Tochter, eine Suche im Inneren und im Äußeren, ein Stück auf dem Weg, um damit weiter zu leben, eher eine Frage, als eine Antwort, aber Bewegung, statt Stillstand.“ Dann wird der Text Zeuge der „Selbstwerdung“ aus einer plötzlich zerrissenen Identität heraus. In diesem Prozess lerne ich mich wieder wahrzunehmen und selbst zu erkennen. Ich spüre letztendlich, dass ich mich in all meiner Unfertigkeit als Mensch annehmen kann. Erst damit schaue ich wieder in eine Zukunft, darf ich mich neu gestalten[3]. Ich bin nicht alleine auf diesem Weg- sie, die so unendlich Vermisste, ist „überall dabei, auch [wenn sie] immer fehlt“[4].

Bei meiner Suche erkenne ich mich auch über den anderen, über  das „Dich“: „und ich werde sterben um ihn [den Ort] zu finden, dann hat die Suche ein Ende, aber vielleicht weiß ich dann nicht mehr wo ich bin, und muss mich selber suchen“[5]. Am Ende bleibt die Liebe: „am richtigen Ort mich Dich spüren lässt, durch Deine Sonne, deren schönster Ausdruck unsere Liebe war und unsere Liebe ist.[6] (515-521)

Natürlich lebe ich weiter, natürlich kann ich mich wieder freuen und finde mich in meinen Leben zurecht. Aber nur, weil ich in Verbindung bleibe. Ich habe mich in dem Thema eingerichtet, es zu meiner neuen  Lebensaufgabe gemacht. Und so schreibe, male, dichte, filme, tone, bastle, unterrichte und arbeite ich, bewege mich in dem weiten Feld von Sterben, Tod und Trauer. Die Gegend ist mir vertraut. Hier kenne ich mich aus, weil ich mich und verschiedene Wegweiser gefunden habe. Und damit wird die ach so dunkle Strecke in ihr fast traumwandlerisch begehbar, bieten die dunklen Schatten Orientierung und Halt. Auf dieser Strecke und neben dem eigenen Zutrauen und Ausprobieren habe ich dann vor Jahren eine Landkarte gefunden, auf der mit klaren Lettern „Trauerfacetten“ stand. Neugierig hob ich sie auf und siehe da, sie passte so gut zu meiner inneren Landkarte. So vieles darin hat geholfen, mich zu sortieren und zu verstehen. Darüber hinaus schuf das Konzept der Trauerfacetten auch Gemeinschaft und machte  mein individuelles Schicksal  verständlich, da es in ein allgemeines einge-bunden wurde. In das, was uns Menschen alle irgendwann einmal begegnen wird und Teil der menschlichen Existenz darstellt.

Die Trauerfacetten von Chris Paul wurden für mich der kognitive Bezugsrahmen in einer emotional schwierigen Situation. Es tat und tut gut, dass der Verstand seinen Beitrag in der Situation geben kann. „Denken kann trösten“ wie uns der Philosoph Eduard Zwierlein versichert. Lesen kann durch verstehen trösten, und so möchte ich an dieser Stelle Zeilen aus dem Gedicht von Erika Bodner zitieren, die ebenfalls ihre Tochter verlor. Es geht um die Trauernden.

Geht behutsam mit uns um, denn wir sind schutzlos.
Gestattet uns unseren Weg, der lang sein kann.
Drängt uns nicht, so zu sein wie früher, wir können es nicht.
Denkt daran, dass wir in Wandlung begriffen sind.

Wir wissen, dass wir Bitteres in Eure Zufriedenheit streuen,
dass Euer Lachen ersterben kann, wenn Ihr unser Erschrecken seht,
dass wir Euch mit Leid konfrontieren, das Ihr vermeiden möchtet.
Wenn wir Eure Kinder sehen, leiden wir.
Wir müssen die Frage nach dem Sinn unseres Lebens stellen.

Unsere Kinder begleiten uns. Vieles, was wir hören, müssen wir auf sie beziehen.
Wir hören Euch zu, aber unsere Gedanken schweifen ab.

Lasst unsere Kinder bedeutend werden vor Euch.
Teilt mit uns den Glauben an sie. Noch mehr wie früher sind sie ein Teil von uns.

Vergesst nicht: wir müssen so vieles von neuem lernen,
unsere Trauer hat unser Sehen und Fühlen verändert.

Wenn wir nun versuchen, vor dem individuellen Schicksal etwas zurück zu treten, und die Ausstellung aus einer anderen Perspektive zu sehen, dann erkennen wir, dass die Trauer um einen geliebten Menschen im Mittelpunkt der Ausstellung steht. Zum einen als individuell erlebte und ausgelebte Trauer, zum anderen als Trauermodell.  Die Ausstellung zeigt, was den Schmerz  der eigenen Trauer mit dem allgemeinen Modell der Trauerfacetten verbindet. Dabei stellt der „Monolog“ den subjektiven Aufschrei und das Ergebnis eines emotionalen und kreativen Ausbruchs über den Tod der eigenen Tochter dar – der erste Kreis. Das „Kaleidoskop“ der Trauer mit seinen sechs Trauerfacetten hingegen bietet einen objektiven, allgemeinen und wissenschaftlich fundierten Rahmen der  Trauer. Es lässt ein Verständnis über den Raum, innerhalb dessen sich die gelebte Trauer bewegt und in der sie verstanden werden kann, zu – der zweite Kreis.

Für den ersten Kreis wurden aus meinem Text des Monologs sechs markante Stellen herausgezogen und von dem Graphiker und Künstler Felix Pestemer in enger Abstimmung mit mir von ihm feinfühlig und ausdrucksstark in große Bilder übersetzt. Die Textstellen wurden zusätzlich im traditionellen Bleisatz auf handgeschöpftes Büttenpapier gedruckt. Die für die zweite Umsetzung digitalisierten Texte, eindringlich gesprochen von Martina Burkat,  fügten sich anschließend zu sechs Videoclips. Um diesen Kern der subjektiven Trauer und ihren Ausdruck legt sich in einem weiteren Schritt das Modell der Trauerfacetten von Chris Paul als zweiter Kreis. Das Modell lässt uns nicht im Schmerz der dargestellten Trauer zurück, sondern hilft, sie einzuordnen. Die erlebten und dargestellten Zustände der Trauer können jetzt in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Die Trauerfacetten bieten damit das objektive Rückgrat eines Verständnisses des eigenen Selbst. Sie werden zu einem zunehmend wichtigeren Begleiter auf dem Trauerweg…ein Begleiter, der einen ernst nimmt. Er lässt uns auch in Momenten verstehen, in denen wir eigentlich noch nicht verstehen können.

Ich erhoffe mir für die Besucher, dass sie zum einen den dargestellten Schmerz und die Trauer erahnen und in gewisser Weise über die gezeigten Worte und Bilder mitfühlen, sofern sie diese Erfahrung nicht schon selber in sich tragen. Zum anderen sollen sie Hoffnung und Zuversicht schöpfen über den Rahmen, in den die individuelle Trauer gestellt wird. Denn Trauer ist keine Krankheit, sie darf durchlebt werden. Trauer braucht ihren Ausdruck und Trauer birgt Chancen. Sie darf Teil meiner Identität und Teil unserer Kultur sein. Trauer gehört im Leben immer dazu. Sie brauchen es nicht zu verstehen, leben Sie es einfach.

Zum Schluss darf ich mich bedanken für die Chance, Zeugnis von der Trauer abzulegen, davon reden zu dürfen, was passiert ist. Danke, dass Sie es mittragen und Danke für die Neugier auf das essentiell wichtige Thema der Trauer. Sie gehört so sehr zum Leben dazu wie die allseits gepriesene Liebe…diese ist nur die Vorderseite der Medaille des Lebens, die Trauer prangt auf der anderen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!

Claus Maywald

[1] Maywald, Claus (2014): Monolog, Roßdorf, Zeile 1-2

[2] Maywald, Claus (2014): Monolog, Roßdorf, Zeile 395-397

[3] Siehe dazu: Brathuhn, Sylvia (2006): Trauer und Selbstwerdung, Würzburg. Hier wird als Aufgabe des Trauerwegs der Prozess der Selbstwerdung beschrieben – von der Selbst-Wahrnehmung zur Selbst-Erkenntnis, von der Selbst-Annahme zu Selbst-Gestaltung.

[4] Nach eine Postkarten von Claus Maywald: „Du bist überall dabei und fehlst immer“.

[5] Maywald, Claus (2014): Monolog, Roßdorf, Zeile 399-403

[6] Maywald, Claus (2014): Monolog, Roßdorf, Zeile 515-521